Der Dompfaff Tschi



Es war ein sehr kalter Wintertag, ich hatte gerade den Unterricht begonnen, als es vor der Türe laut wurde und eine Schar Kinder herein gestürmt kam. Das erste hatte in der Hand ein Dompfaffen Männchen, das eher tot als lebendig war. Sie hatten gesehen wie es im Pausenhof ganz plötzlich auf den Boden gefallen war und vergeblich versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Eines der Mädchen ging hin und nahm ihn auf und versuchte ihm zu helfen , aber er war zu elend um sich zu setzen, auch wehrte er sich nicht mehr.

Da ich in der Zwischenzeit schon auf Überraschungen gefasst war, konnte ich sehr schnell helfen .Ein warmes Nestchen war schon bereit. Nun schnell ein wenig Traubenzucker und ein Tropfen Vitamin in eine Pipette und nun das gespannte abwarten ob der Vogel noch Schluckreflexe zeigt. Der erste Tropfen lief weg. Nun nahm ich ein Wattebäuschchen und öffnete vorsichtig den Schnabel und schob den angefeuchteten Wattebausch dazwischen. Durch das Öffnen des Schnabels öffnete der Vogel ganz leicht seine Augen - und nun ganz rasch noch ein Tröpfchen auf die Watte. Es verging eine ganze Weile - Ich massierte inzwischen die Herzgegend und siehe da, der Schluckreflex kam.
Nun nochmals ein Tröpfchen auf die Watte und wieder schluckte unser kleiner Patient.
Die Klasse war sprachlos - Die Mädchen hielten fast den Atem an.
In solchen Augenblicken ließ ich die Klasse teilnehmen, sie arbeiteten nachher um so besser.

Ich hatte den Vogel in der Hand und schaute vorsichtig ob er irgend wo verletzt wäre- dabei bekam er immer wieder ein Tröpfchen auf die Watte und immer rascher zeigte sich der Schluckreflex, dabei machte er kurz die Augen auf. Und bald bemühte er sich die Watte aus dem Schnabel zu bringen, wobei ich ihm half. Nun setzte ich ihn ins vorbereitete Bettchen, aber er kippte noch immer zur Seite, auch sein Köpfchen war im noch zu schwer.
Gut eingebettet ließ ich ihn nun eine Weile ruhen.
Der bisherigen Lösung mischte ich nun noch etwas Eipulver bei und gab unserem Patienten immer wieder ein Tröpfchen. Nach einer guten halben Stunde zeigte er Schnabelbewegungen und nach weiteren 20. Minuten setzte er sich zurecht. Die Augen öffnete er noch immer, nur für einen kurzen Moment.

In der Unterrichtszwischenpause mischte ich eine kräftigere Flüssignahrung, mit Vogeldiätpulver und ein paar aufgebrühten und passierten Haferflocken und er nahm es an, ja er verlangte geradezu danach. Nach dieser Mahlzeit konnte ich ihn für längere Zeit schlafen lassen.
Eine gute Stunde war alles ruhig und meine Mädchen hatten schon Sorge er würde nicht mehr aufwachen. Aber auf einmal wurde er unruhig und versuchte aus der Mulde heraus zu krabbeln, aber das war dann doch noch zu früh.
Ich machte sein Nestchen trocken und setzte ihn, nach erneuter Fütterung wieder zurück und er schlief weitere 2 Stunden.



Nun aber schaffte er es oben auf zu sitzen. Ich stülpte sicherheitshalber den Vogelbauer über und nach erneuter Fütterung und Trockenlegung hatte er gute Verdauung.

Am Abend saß unser Patient schon auf der Stange, aber er war noch sehr müde, doch pickte er schon eine zerquetschte Vogelbeere und einen Sonnenblumenkern. Die Verdauung klappte weiterhin gut und das lies hoffen.
Am Abend gab es noch in einer Pipette, gekochtes Eigelb mit Zwieback, etwas Vogeldoktor (Diätpulver ) und etwas Traubenzucker und dann wurde geschlafen.
Ich wusste, wenn er die Nacht übersteht, dürfte die Krise überwunden sein.

Wurde ich wach, schaute ich nach ihm, aber er schlief tief und fest. Als er mal wach war, bekam er eine leichte Mahlzeit und gleich schlief er auch wieder weiter.
Er machte gute Fortschritte, nur seine Müdigkeit erschreckte mich und das ging so einige Wochen. Er fraß zwar selbst, aber das war auch seine ganze Beschäftigung – Fressen und Schlafen – fressen und schlafen!

Zwischendurch machte ich mit ihm Bewegungsübungen, da er selbst gar nichts unternahm. Er atmete dann mit offenem Schnäbelchen und das Herzchen raste, obwohl er nicht dick war und ich ihn auch nicht überforderte. (Ich gab, in sein Getränk, in Ermangelung von Notfalltropfen, einen winzigen Tropfen Sekt, das stärkte das Herzchen und es zeigte seine Wirkung)
Wir machten weiterhin leichte Übungen und es lohnte sich. Der Kreislauf stabilisierte sich und unser Pfäffchen wurde wieder lebhaft.
Nun war es Zeit ihn mit Pikolo, unserem Wellensittich bekannt zu machen und es war erfreulich wie unser Pfäffchen reagierte - er ließ sich herausfordern und das war gut.

Seine Federn wurden wieder frisch und bekamen eine schöne Farbe – sein rotes Brüstchen leuchtete kräftig, ein Zeichen, daß es ihm wirklich gut ging.

Doch da es noch mitten im Winter war, durfte er noch hier bleiben, um ihn dann im zeitigen Frühjahr wieder fitt in die Freiheit zu entlassen.
Unser Pfäffchen schien nichts zu missen, er freundete sich mit Pikolo dem Wellensittich an. Und die Beiden waren ein Herz und eine Seele und unsagbar verspielt.
Piko hatte bald den wehmütigen Gesang des Dompfaffen erlernt und das verband die Beiden so recht innig. Wir hatten sehr viel Freude und ich dachte schon mit Wehmut an die Zeit des Abschieds.

So langsam musste ich ihn auch an die raue Luft gewöhnen und so stellte ich ihn im Vogelbauer oft ans offene Fenster, aber es zog ihn noch nichts nach draußen, im Gegenteil, es zog ihn ganz stark ins Zimmer zurück.

Immer öfter stellte ich ihn nun ans offene Fenster und an einem schönen Tag ging das Türchen auf und er flog aus – aber schon am Abend war er wieder da.
So ging es einige Zeit bis er dann wirklich aus blieb. Ich denke er hatte ein Weibchen gefunden und mußte sich nun um die zukünftige Familie kümmern.

Piko saß noch oft am Fenster und hielt Ausschau, aber unser Pfäffchen schien sich wieder in seine ursprüngliche Umgebung eingelebt, und darüber auch Piko vergessen zu haben!